Geschichte der Schulung in Orientierung und Mobilität (O&M)

Auszug aus dem Artikel „Der weiße Langstock und seine weisen Väter“, entnommen dem Jahrbuch „Weitersehen 2015“ des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV

Wie alles anfing …

Orientierungs- und Mobilitätsschulungen mit dem Langstock wurden während des Zweiten Weltkriegs von einem Mitarbeiterstab in der Valley Forge Klinik für Kriegsblinde (USA) begonnen. Die Idee eines langen Stocks, zuerst aus Holz, dann nach kurzer Erprobung aus Leichtmetall, kam von Richard Hoover, der vor dem Krieg an der Blindenschule in Maryland tätig war und nach dem Krieg Augenarzt wurde. Der Stock trug daher lange Zeit den Namen „Hoover Cane“. 

Internationale Zusammenarbeit

Im August 1966 reiste einer der ersten O&M-Lehrer in den USA, Stanley Suterko, für ein Jahr nach England, um das Midlands Mobility Centre in Birmingham aufzubauen, und bildete hier sowohl blinde Menschen als auch das Personal für das Zentrum aus.

Die American Foundation for the Overseas Blind (AFOB, heute: Helen Keller International) bot in den Jahren 1968 bis 1970 Einführungskurse in O&M in Paris an. Einer der Kursteilnehmer, der sehende Blindenoberlehrer Hans Erich Kiefner aus Friedberg, verbreitete die Idee des O&M-Trainings daraufhin auch in Deutschland. An mehreren Einrichtungen für blinde Menschen wurde zu jener Zeit an der Entwicklung von O&M gearbeitet und der Langstock gewann mehr und mehr an Akzeptanz. 1973 fand, entwickelt von Blindenlehrern und -erziehern und unter der Schirmherrschaft des Verbandes für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik, in Timmendorfer Strand der erste Lehrgang für O&M-Trainer in Deutschland statt.

Jochen Fischer, der zu jener Zeit im sportpädagogischen Bereich an der Deutschen Blindenstudienanstalt (blista) in Marburg tätig war, hatte an dem Kurs teilgenommen und sehr früh die Vorteile des Langstocks erkannt. Die Beine seines Kamerastativs mussten dran glauben – er hatte sie einfach abmontiert, mit Klebeband umwickelt und weiß gestrichen. Diese „Langstöcke“ standen zusammen mit verlängerten Plastikstöcken für die ersten Versuche zur Verfügung. 

Von Marburg nach England, in die USA – und zurück

1974 schickte der Direktor der blista, Hans Heinrich Schenk, das Ehepaar Béatrice und Jochen Fischer nach Birmingham zur Ausbildung als O&M-Lehrer. Zur gleichen Zeit beurlaubte er Dennis Cory, der ebenso wie seine Frau Pamela Erzieher an der blista war, damit er in den USA den Abschluss als O&M-Lehrer machen konnte. Unterdessen absolvierte Pamela Cory im selben Programm die Ausbildung als Lehrerin für Lebenspraktische Fähigkeiten (LPF). Sie war damals in Deutschland die einzige, die Ausbildungskurse in LPF anbot, zunächst an der blista in Marburg, später an dem von ihr und ihrem Mann gegründeten Institut für Rehabilitation und Integration Sehgeschädigter (IRIS) in Hamburg. 

Als die Fischers aus England und die Corys aus den USA zurückgekommen waren, bauten sie zunächst gemeinsam das O&M-Programm in Marburg aus. Sie hatten aber auch das Gedankengut der Low-Vision-Bewegung mitgebracht und verschafften der Differenzierung zwischen Blindheit und Sehbehinderung Aufmerksamkeit. Von nun an wurden an der blista auch sehbehinderte Menschen gezielt gefördert. Bis dahin hatte man sie oft gezwungen, bei O&M- und LPF-Schulungen Augenbinden zu tragen, anstatt ihr verbliebenes Sehvermögen zu trainieren; nun gab es Trainings speziell für sie. Man arbeitete mit Bildschirmvergrößerungsgeräten und Monokularen.

Produktionsstart für Langstöcke in Deutschland 

Am Anfang wurden Langstöcke aus England, Dänemark und Schweden importiert, da es in Deutschland keinen Hersteller gab. Eines Tages jedoch meldete sich der Erfinder des Audilux Lichterkennungsgeräts, Hans Wenz, bei der blista, um die ersten in Deutschland produzierten Langstöcke anzubieten – 50 Stück wurden bestellt. Es dauerte nicht lange, bis andere Stöcke in Deutschland hergestellt wurden: einteilig, mehrteilig, faltbar, teleskopierend, aus Metall, Glasfiber, Karbonfiber. Auch die Tastspitzen wurden enorm weiterentwickelt und sind heute je nach Bedarf und Geschmack in den unterschiedlichsten Ausführungen erhältlich.

Langstocktraining plus Echoortung 

In der „Experimentierzeit“ Ende der 1960er Jahre gab der blinde Jurastudent Armin Kappallo, Vorsitzender des Deutschen Blindenverbandes (DBV) von 1986 bis 1998, Jochen Fischer wesentliche Impulse. Er hatte ein hervorragendes Gehör und war davon überzeugt, dass dies für die Fortbewegung blinder Menschen unverzichtbar sei. Einen Stock hatte er nicht, aber die Absätze seiner Schuhe waren metallbeschlagen. Jeder Schritt erzeugte einen Klick, der von Hindernissen in der näheren Umgebung reflektiert wurde und sie hörbar machte. Jede Woche übten Kappallo und Fischer mit Schülern das Hören der Säulen in der alten Pausenhalle der blista. Die Übenden wurden in Abständen von 50 Zentimetern bis vier Metern an den Säulen vorbeigeführt und sollten diese anzeigen. Bei einer anderen Übung sollte in einer vorgegebenen Distanz vor einer Wand gestoppt werden. Danach ging es nach draußen. Ziel war das Heraushören von Bäumen am Rande des Gehwegs, dann das Heraushören von Laternenpfählen. Mit diesen und weiteren Übungen erwarben viele Schüler die Fähigkeit, vor- und zurückliegende Haustüren, ja sogar vorspringende Dachrinnen mit dem Gehör zu erkennen.

Das Nutzen von reflektierten Geräuschen wird „Echoortung“ genannt. Sie ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts, sondern wurde schon Anfang der 1970er Jahre von Kappallo und der blista systematisch eingesetzt. So wird eine gute Langstocktechnik im Mobilitätstraining durch ein gutes Gehör und den Einsatz der Echoortung sinnvoll ergänzt.

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