Das Zahlen-Dilemma

In Deutschland werden blinde und sehbehinderte Menschen nicht gezählt. Dies ist kaum zu glauben, denn die Zahlen wären vielfach nützlich.

Wie viele blinde und sehbehinderte Menschen gibt es in Deutschland? Eine einfache Frage, die in westlichen Industrienationen, in denen alles und jeder statistisch erfasst wird, eigentlich einfach zu beantworten sein sollte. Doch das ist sie nicht – zumindest nicht in Deutschland. Niemand weiß genau, wie viele Betroffene es bundesweit gibt.

Schätzungen und Hochrechnungen

Die Zahlen, die häufig genannt werden und die Grundlage für viele Planungen sind, ergeben sich durch Schätzungen und Hochrechnungen. Dabei wären genaue Zahlen sehr nützlich – vor allem in den Bereichen Blindenbildung, öffentliche Hand und Augenmedizin. Doch bisher muss man in diesen Fällen Zahlen zu Grunde legen, die auf Erhebungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in anderen Ländern basieren. 2002 wertete die WHO die Zahlen der Betroffenen aus den europäischen Ländern aus, die bereits eine entsprechende Statistik führen. Dazu zählen Dänemark, Finnland, Großbritannien, Irland, Island, Italien und die Niederlande. Die Erhebung ergab, dass die Zahl der von Sehbehinderung betroffener Menschen in den Jahren 1990 bis 2002 um 80 Prozent angestiegen war. Ein vergleichbarer Anstieg wurde entsprechend auch für Deutschland angenommen.

Prof. Dr. Bernd Bertram wertete die WHO-Zahlen aus und zog Rückschlüsse auf die Situation in Deutschland.[i] Seiner Untersuchung zu Folge waren 2002 entsprechend 1,2 Millionen Menschen in der Bundesrepublik blind oder sehbehindert.[ii] Bis heute sind dies die aktuellsten belastbaren Zahlen. Aus diesem Grund gibt es bereits seit Jahren eine breite Forderung nach neuem, empirisch erhobenem Zahlenmaterial zur Situation der blinden und sehbehinderten Menschen in Deutschland.

Alte Erhebungen, andere Zahlen

Auch in der DDR wurde versucht, die Anzahl der blinden und sehbehinderten Menschen zu erfassen. Hier wurden die Empfänger des Blindengelds gezählt. Da jedoch nicht jeder Betroffenen auch das ihm zustehende Geld beantragte, konnte die genaue Zahl nie ermittelt werden. Eine Dunkelziffer blieb bestehen. Trotzdem wurden die Zahlen nach der Wiedervereinigung per Dreisatz auf Gesamtdeutschland übertragen. Entsprechend lebten 1990 laut der Hochrechnungen 500.000 Menschen mit Sehbehinderung sowie 150.000 blinde Menschen in Deutschland.

Wer ist blind, wer sehbehindert?

Obwohl in Deutschland keine gesicherten Zahlen über die Verteilung von Blindheit und Sehbehinderung verfügbar sind, gibt es im deutschen Recht doch eine genaue Definition, wer als blind und wer als sehbehindert gilt.

  • Ein Mensch ist sehbehindert, wenn er auf dem besser sehenden Auge selbst mit Brille oder Kontaktlinsen nicht mehr als 30 Prozent von dem sieht, was ein Mensch mit normaler Sehkraft erkennt. (Sehrest kleiner gleich 30 Prozent)
  • Ein Mensch ist hochgradig sehbehindert, wenn er auf dem besser sehenden Auge selbst mit Brille oder Kontaktlinsen nicht mehr als 5 Prozent von dem sieht, was ein Mensch mit normaler Sehkraft erkennt. (Sehrest kleiner gleich 5 Prozent)
  • Ein Mensch ist blind, wenn er auf dem besser sehenden Auge selbst mit Brille oder Kontaktlinsen nicht mehr als 2 Prozent von dem sieht, was ein Mensch mit normaler Sehkraft erkennt. (Sehrest kleiner gleich 2 Prozent)

Was bedeutet beispielsweise ein Sehrest von weniger als 5 Prozent? Die verschiedenen Augenerkrankungen wirken sich extrem unterschiedlich aus.

  • Ein Sehrest von weniger als 5 Prozent kann bedeuten, dass ein Mensch einen Gegenstand erst aus 5 m Entfernung erkennt, den ein normal sehender Mensch bereits aus 100 m Abstand erkennt.
  • Ein Sehrest von weniger als 5 Prozent kann aber auch bedeuten, dass ein Mensch (wie durch einen Tunnel) nur 5 Prozent des normalen Gesichtsfeldes sieht.

Den etwas älteren, aber sehr interessanten Artikel zum Thema „Doch die nicht sehen, zählt man nicht!“ des blinden Historikers Dr. Hartmut Mehls aus dem Jahr 2002 finden Sie HIER.

Weitere Informationen zum Thema finden Sie zudem auf derInformationsseite „Zahlen und Fakten“.

 


[i] Prof. Bernd Bertram: Blindheit und Sehbehinderung in Deutschland: Ursachen und Häufigkeiten, veröffentlicht in "Der Augenarzt", 39. Jahrgang, 6. Heft, Dezember 2005)

[ii] Weil die WHO Blindheit und Sehbehinderung anders kategorisiert als das deutsche Recht (nämlich in WHO-Grad 1-5), ist nur diese Gesamtzahl auf deutsche Verhältnisse übertragbar.

In einer schematischen Wolke sind die Zahlen 1,2 Millionen, 500000 und 150000 aufgeführt.

Niemand weiß, wie viele blinde und sehbehinderte Menschen es in Deutschland gibt.

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